Geschichte: Vom Heumarathon zum exquisiten Käse

Der beste Antrieb? Die Leidenschaft

In dieser cremigen Speise vereinen sich die Aromen der Berge mit Sorgfalt und Leidenschaft. Es sind die geheimen Zutaten des Tessiner Käse.

Piora, Sonogno, Valmaggia, Carì. Das sind nicht nur Ortsnamen, sondern auch köstliche Käsesorten. Im Tessin ist für jeden Geschmack etwas dabei: Formaggino aus Kuh- oder Ziegenmilch, Formagella, Alpkäse: Es ist unmöglich, alles durchzuprobieren. Ein Besuch im Sonnental bei Doris, einer jungen Käserin.

DAS IST

Doris Martinali, Käserin

Doris Martinali, Käserin
Auf der Alp angekommen, müssen die Kühe lernen, die Weide abzugrasen. Das ist schwieriger als Heu zu fressen.

Einen Käselaib aus dem Keller holen, auf dem Tisch platzieren, noch einmal drüber streicheln – und dann entschieden anschneiden. Anfangs leistet er vielleicht noch Widerstand. Doch wenn er erst einmal geöffnet ist, entströmt ein köstlicher Duft, der das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.

Doris Martinali, 22 Jahre, aus Largario im Bleniotal ist Expertin für dieses Thema. Nach einer dreijährigen Ausbildung zur Landwirtin im Kanton Zürich leitet sie nun den Agrarbetrieb der Familie. Bei ihr entsteht der Crenga, ein für die Region typischer Formagella. Dabei handelt es sich um einen jungen Käse auf der Basis von Kuhmilch, dessen kleine Laibe eine dünne graue Schicht und einen weichen cremigen Kern vorweisen.

Die Kühe von Doris stehen von September bis Juni in einem Stall in Largario, wo Doris rund 1’900 kg Crenga produziert. Im Sommer wandern die Tiere auf die Alp, wo sie, gemeinsam mit 220 anderen Rindern, das würzige Gras der Bergwiesen fressen. Wenn sie im September ins Tal zurückkommen, ist auch der Lucomagno Segno dabei, ein delikater Käse, der hoch auf der Alp produziert wird.

DIE VOLLSTÄNDIGE GESCHICHTE


Um 4.45 Uhr klingelt der Wecker. Kein leichtes Leben für eine Landwirtin im Gebirge: Bei Sonnenaufgang sind die Kühe bereits gefüttert und ruhig. Kaum haben die Tiere den Stall verlassen, beginnt die Verarbeitung der Milch. Im Sommer wird das Heu gemacht. Es sind eine Vielzahl kleiner Aufgaben, die die Bergbäuerin täglich erwartet. Dazu gehört auch Verwaltungsarbeit, es braucht immer neue Ideen und neue Vertriebspunkte. «Einen Rhythmus zu haben, ist fundamental», sagt Doris und lächelt.

Für diese Arbeit braucht es Leidenschaft, anders lassen sich die vielen Opfer nicht bringen.

Doris ist eine sympathische, fröhliche junge Frau. Sie tritt aber auch entschlossen auf, weiss, was sie will. Gemeinsam mit ihrer Schwester Marina wuchs sie im elterlichen Agrarbetrieb auf. Die Liebe zu den Bergen, den Tieren und der Region liegt ihr in den Genen. Die Leidenschaft zum Beruf verrät sie nicht nur mit ihren Blicken, Gesten und Worten, sondern auch mit einer Tätowierung. Von der Schulter blickt einem tatsächlich Kuh Karin entgegen: «Meine Lieblingskuh ist eigentlich eine andere, aber Karin ist zweifellos die Schönste.»

Die Tiere gehören zur Rasse Original Braunvieh, ein robustes Rind mittlerer Grösse, braun, mit dunklem Maul und dunklen Hufen. Früher war diese einheimische Rindviehrasse in den Schweizer Bergen sehr verbreitet. Sie wurde dann vermehrt durch produktivere Rassen ersetzt, die allerdings weniger an das alpine Ambiente angepasst sind. 

Doris Kühe mit ihren hübschen Hörnern und den Glöckchen sind ein Symbol der Alpen. Bereit für ein Selfie?

Die alpine Landschaft mit ihren grünen Wiesen und Wäldern macht das Tessin so einzigartig. Natürlich dient diese Umgebung dem Menschen nicht nur zum Bewundern und Fotografieren, sondern erfüllt einen wichtigen Zweck: Hier wird das Heu produziert, das im Winter den Tieren als Nahrung dient. Von Mai bis September müssen sich Doris und ihre Familie einer Arbeit widmen, die alle Bergbauern nur zu gut kennen: die Heuernte. Zahlreiche Wochen verbringen sie damit, die Weiden auf 500 bis 1’700 Höhenmetern zu mähen. Jede Weide muss 2-3 Mal abgearbeitet werden, immer bei schönem Wetter, weil das Heu sonst verdirbt. Ein echter Marathon.

Ohne die Kühe, die friedliche, fast schläfrige Atmosphäre verbreiten, gäbe es keinen Käse. 

Doch auch ohne Doris, die alle zwei Tage Milch in zylinderförmige Käsemasse verwandelt, könnten wir diese Alpspezialität nicht geniessen. 

Pro tip
Es gibt viele Alpwirtschaften im Tessin – und noch mehr guten Käse. Zu den bekanntesten Sorten gehört sicherlich der Piora (DOP).
Der kleine Agritourimus in Largario bietet auch Milch, Kalb- und Lammfleisch und
verschiedene Wurstwaren an.
Herbstfest und Käsemarkt: Im Oktober kann in Bellinzona Käse aus dem ganzen Tessin gekostet werden.

Wichtige Faktoren für einen guten Käse sind die Milchtemperatur, Luftfeuchtigkeit, Salzmenge und viele andere Variablen, die den Geschmack verändern. «Bis ich die perfekte Formel gefunden hatte, musste ich viel ausprobieren.»

Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Käse gut bei den Leuten ankommt? «Das macht mir grosse Freude. Doch noch wichtiger ist mir Kritik, damit ich mich immer verbessern kann.» Ein ehrgeiziger Mensch, der da spricht.

«Unter den Helfern in unserem Betrieb hatten wir auch Leute, die leidenschaftlich gern Berglauf oder Marathon machten, doch selbst sie kamen bei dem Tempo nicht mit.» Für die Arbeit brauche es Durchhaltevermögen und Leidenschaft, «anders lassen sich nicht die vielen Opfer bringen.» Aber wie lädt Doris ihre Batterien wieder auf?  «Ich versuche, einmal im Jahr eine Woche frei zu nehmen, um wegzufahren, mich auszuruhen und meinen Geist wach zu halten.» In der Tat fällt im Gespräch mit Doris sofort ihre Lust auf, neue Welten kennenzulernen, Ideen zu sammeln und Projekte zu entwerfen, mit denen sie ihren Betrieb verbessern kann. 

Selbst in ihren Träumen bleibt Doris mit den Füssen fest auf dem Boden.

«Um 4.45 Uhr klingelt der Wecker. Kein leichtes Leben für eine Landwirtin im Gebirge.»

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