Geschichte: Wo Tausende zusammenkommen

Eine lebendige Tradition erleuchtet die Stadt

Die Prozessionen der Karwoche sind mehr als ein Kirchenfest und tief im Stadtleben verwurzelt.

Über 270 Darsteller am Donnerstag, 700 Teilnehmer am Freitag, dazu zahlreiche Helfer, alle ehrenamtlich. Jeder will mitmachen. Doch so mancher muss ein Jahr warten, um einen Legionär oder eine der drei Marien verkörpern zu können. Die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio sind Teil des immateriellen Kulturerbes UNESCO und setzen die Geschichte in Szene.

DAS IST

Claudio Fontana, Darsteller der Prozessionen der Karwoche

Claudio Fontana, Darsteller der Prozessionen der Karwoche
Wenn die Prozession den zentralen Platz erreicht und 800 Menschen drehen sich zu einem um, ist das pures Gänsehaut-Feeling.

«In Mendrisio könnte man Weihnachten abschaffen, aber würde jemand wagen, Ostern anzurühren, bräche eine Rebellion aus.» Deutlicher als Claudio Fontana, Jahrgang 1986, Technik-verantwortlicher einer Firma in der Region, lässt es sich wohl nicht ausdrücken.

Für den Magnifico Borgo (das prachtvolle Dorf) in der südlichsten Region des Tessins sind die Osterprozessionen mehr als ein klassisches Kirchenfest. Die Zuschauerreihen sind bunt gemischt, Jung und Alt, Anwohner und Touristen, Gläubige und rein Neugierige. 

Die Prozessionen der Karwoche, deren Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen und durch die Serviten in der Zeit der Gegenreformation gegründet wurden, bestehen aus dem Passionsspiel am Donnerstag und dem klassischen, festlichen Umzug am Freitag.

Eine lebendige Tradition, die es bis zu den immateriellen Kulturgüter der UNESCO geschafft hat.

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Die Pferde scharren nervös mit den Hufen. 40 Tiere sind es allein am Donnerstag. Bei den jüngsten Darstellern macht sich mit Tränen das Lampenfieber bemerkbar. Trommeln erklingen, Hufe klappern, Ketten scheppern. Weinende Jünger neben dem Kreuz. Das Passionsspiel lässt niemanden unberührt.

«Seit ich sechs Jahre alt bin, nehme ich jedes Jahr an den Prozessionen teil. Nur einmal habe ich ein Jahr ausgesetzt.» Claudio ist genau so wie man sich einen Momò, einen Bewohner des Mendrisiotto, vorstellt, sympathisch, freundlich und fröhlich. In seinen Gesichtsausdruck mischt sich Stolz, sobald er über die Prozessionen spricht.

Bei wem erst das heilige Feuer für die Prozessionen entfacht ist, der macht jedes Jahr wieder mit.

«Um uns besser in die Figuren hineinfühlen zu können, lassen mein Vater und ich uns Bärte wachsen.» Statt Playoff-Bart gibt es in Mendrisio also den Prozessionen-Bart. Indem Claudio an der Veranstaltung mitwirkt, führt er eine Familientradition fort. Seit mehreren Jahren verkörpert er den Nicodemus an der Seite von Josef von Arimathäa.

Der wiederum wird von seinem Vater gespielt. Trotz Publikum und den anderen Darstellern ist die Prozession für beide ein Moment von Zusammengehörigkeit.

Pro tip
Die erste schriftliche Erwähnung der Prozessionen geht auf das Jahr 1697 zurück, aber ihre offizielle Geburt wurde auf 1798 festgelegt.
Früher wurde der Jesus-Darsteller in den Glockenturm der Kirche San Giuseppe bei Wasser und Brot eingesperrt.
Seit den 1960er Jahren können Frauen an Prozessionen teilnehmen.

Bei den Prozessionen mitwirken zu dürfen, ist eine grosse Ehre. Viele der Teilnehmer stammen aus Mendrisio, sind mit der Tradition aufgewachsen. Andere reisen extra an, teilweise sogar aus England.

Hilfe wird immer benötigt, auch Träger für die Transparente.

Die bedeutsamste Rolle ist die des Jesus. Wer Jesus werden will, muss bereits am Passionsspiel teilgenommen haben, eine schriftliche Bewerbung ans Stiftungskomitee schreiben und viel Geduld und Fairplay mitbringen. Die Entscheidung ist geheim. Erst am Ende der Prozession erfährt das Publikum, wer das Kreuz getragen hat.

Es heisst, manchmal seien selbst Ehefrauen nicht eingeweiht. 

Der Umzug am Karfreitag ist für seine Transparente berühmt. Diese durch Kerzenschein erhellten Laternen zeigen Bilder der Leidensgeschichte Jesu. Die Leuchtbilder, die sowohl an den Häusern angebracht sind als auch während der Prozession von hunderten Teilnehmern getragen werden, verleihen der Veranstaltung etwas besonders Festliches. Ursprünglich hatten die Transparente den Zweck, der Bevölkerung die Heilige Schrift näher zu bringen. Mit der Zeit wurden die Bilder zu einer Art Statussymbol, mit denen Familien ihren Reichtum demonstrierten. Das Ergebnis war eine Art Wettstreit, der wahre Kunstwerke hervorbrachte.

Heute gelten die Transparente als wertvolle Kunstschätze und werden mit Sorgfalt aufbewahrt. Sie beweisen die Fachkenntnisse der Kunsthandwerker. Die Herstellung ist eine lebendige Tradition, die über Jahrhunderte weitergegeben wurde. Die Leuchtbilder benötigen aufwendigen Unterhalt. Jacopo Gilardi ist, wie schon seine Vorfahren, für die Restaurierung zuständig.

Ein besonderes Augenmerk von Museo del Trasparente liegt auf dem Maler Giovan Battista Bagutti, in dessen Werkstatt damals die erste Reihe mit 58 Leuchttransparenten entstanden ist.

Doch die wahre Kraft der Prozessionen liegt in der Unterstützung und Mitwirkung durch so viele Menschen, von der Finanzierung über die Teilnahme bis zur Arbeit hinter den Kulissen.

Für die Organisation der Prozessionen ist heute die Stiftung Processioni Storiche di Mendrisio verantwortlich, die die Bewahrung dieser lebendigen Tradition 
zum Ziel hat.

«355 die Transparente, welche die Strassen des Zentrums erhellen.»

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