Geschichte: Königin Kastanie

Tessiner Symbol im Stachelmantel

Baum und Frucht haben grosses Potential: Aus der Kastanie entstehen Pasta, Bier, Süssspeisen, Möbel, Honig und Kosmetik.

Der Brotbaum hat im Tessin über Jahrhunderte Familien ernährt und ist tief in der lokalen Tradition verwurzelt. Noch heute ist die Kastanie bekannt für köstliche Delikatessen und herrliche Selven zum Auspannen. Zwei Experten helfen, die Kastanie besser kennenzulernen.

Im Frühjahr begrüsst die Kastanie die Spaziergänger mit ihren jungen, smaragdgrünen Blättern und den weissen Blüten-Kerzen. Im Sommer strahlen die Bäume eine tiefe Ruhe aus, umschwirrt von unzähligen Bienen auf der Suche nach Nektar für einen köstlichen Honig. Im Herbst bei der Kastaniensuche raschelt das trockene Laub unter den Füssen und erinnert an Kindheitstage. Der Duft gerösteter Kastanien kündigt den bevorstehenden, kalt-gemütlichen Winter an und erfüllt die Herzen.

Ein Besuch der Tessiner Kastanienselven und die Degustation von Kastanienprodukten sind ein unvergessliches Erlebnis. Die Selven erinnern eher an einen Park als an einen normalen Wald und sind das ideale Ausflugsziel mit Kindern, die dort spielen können.

Lara Monti und Carlo Scheggia kennen sich aus. Zwar kommen sie aus ganz verschiedenen Berufen, haben aber eine gemeinsame Leidenschaft für diese besondere Pflanze.

DIE VOLLSTÄNDIGE GESCHICHTE


Carlo, beginnen wir bei den Kastanienselven. Sie haben in den 90er Jahren zu deren Wiederentdeckung beigetragen: Was ist das Besondere an diesen Wäldern?

«Es ist schwer zu erklären: Es ist eine einzigartige Umgebung. Man befindet sich mitten in der Natur, und doch ganz nah am Ort. Die ersten Baumbestände, die wir vor der Überwucherung durch den Wald gerettet haben, befanden sich in Arosio, im Alto Malcantone und erstreckten sich auf 5 Hektar. Heute gibt es allein in dieser Region 105 Hektar Selven. Wir haben auch den Kastanienweg geschaffen. Oft bieten wir geführte Wanderungen an: In meinen 35 Jahren als Förster habe ich viele Touren gemacht, nun arbeite ich mit Lara zusammen, die unter anderem Schulklassen begleitet.»

Lara ist in Neggio im Malcantone aufgewachsen, hatte aber immer nur Bezug zum See, fuhr an den Strand. Der höhere Teil des Malcantone erschien ihr weit weg. Dann machte sie ihren Master in Raumentwicklung zum Thema Wald und lief den Kastanienweg ab. Und verliebte sich. Sie hat in Lausanne, Stockholm, Berlin und in Indien gelebt. Vor allem in Indien lernte sie, im direkten Kontakt mit der Natur zu leben, die bis an die Haustür heranreicht.

Die Kastanienselven sind ähnlich: Der Wald ist ein Freund, der den Menschen ernährt. Auch für die Artenvielfalt haben Kastanienselven hohe Bedeutung.

Im Herbst habe ich zu Hause immer Kastanien auf dem Feuer.

Über Jahrhunderte hat der so genannte Brotbaum Familien im Tessin ernährt. Der Besitz vieler solcher Bäume stand für Reichtum, es wurde alles genutzt: Die Frucht zum Essen, das Holz zum Bauen, die Blätter als Streu für das Vieh.

Die Kastanie ist ein Symbol des Tessins, so wie der Merlot. Wenn sich jemand Kastanienhonig auf sein Brot streicht oder einen Verkäufer von Röstkastanien sieht, denkt er sofort ans Tessin.

Es geht schon mit dem Sammeln los, was immer ein grosser Spass für alle ist. Unter freiem Himmel, in der Natur – und wer eine grosse Kastanie entdeckt, fühlt sich wie ein erfolgreicher Schatzsucher. Es gibt Leute, die seit Generationen Kastanien in den Selven suchen: Grosseltern, Eltern, Kinder.

Das Schöne ist, dass die Kastanien einerseits mit nach Hause genommen werden können, andererseits die Möglichkeit besteht, sie zu einer Sammelstelle zu bringen. Diese werden später zu Mehl und Cornflakes verarbeitet. Es hat etwas sehr Erfüllendes: Man sammelt und verkauft die Kastanien in dem Wissen, dass ein wertgeschätztes Produkt aus ihnen entsteht. Bringt so viele Kastanien, wie ihr wollt! Es gibt immer Bedarf.

Die Grà sind kleine Hütten, in denen die Kastanien getrocknet werden. Im Erdgeschoss wird für 3 bis 4 Wochen ein Feuer entzündet, im ersten Stock kommen die Kastanien auf einen Rost. Rauch und Hitze lassen die Früchte trocknen, die anschliessend gemahlen und in Mehl verwandelt werden. Es ist eine Technik, die seit Jahrhunderten weitergegeben wird. Heute erfüllt sie hauptsächlich einen informativen und didaktischen Zweck. Nur die drei grössten Anlagen sind noch in Betrieb: Vezio, Moghegno und Cabbio. 

Das Auffüllen und Entleeren der historischen Grà, Mitte Oktober und Mitte November, fällt in der Regel mit Volkfesten zusammen, bei denen die Besucher das Ereignis aus der Nähe erleben können.

Pro tip
«Dragrà» ist eine von mehreren Biersorten mit Kastanienaroma, die es im Tessin gibt.
Viele Bäume befinden sich in Privatbesitz. Bis San Martino (11. November) ist es daher verboten, Kastanien von Bäumen zu sammeln, unter denen Gras gemäht ist oder Blätter geharkt sind.
700 Jahre: das Alter, das ein monumentaler Kastanienbaum erreichen kann.

Lara, wer hätte gedacht, dass eine so kleine Frucht so viele Geschichten in sich vereint?

«Ich würde noch weitergehen: Die Kastanien stecken voller Energie. Sie laden unsere Batterien wieder auf. Es gibt tatsächlich eine japanische Technik, die lehrt, wie man zwischen Bäumen herumläuft, um ihre Kraft zu spüren. Dazu braucht man Zeit, ca. 3 Stunden, auch wenn 20 Minuten täglich schon guttun würden. Es wird zu ganz konkreten Erfahrungen kommen. Der Mensch kann komplett regenerieren.»

«Der Kastanienwald ist das ganze Jahr über lebendig.»

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