Diese Beschreibung soll die Kunstschätze in der Kirche von Palagnedra in den Centovalli besser bekannt machen. Weil das Dorf nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist, droht es ungerechtfertigt in Vergessenheit zu geraten. Drei Kilometer Fahrstrasse trennen die höher gelegene Ortschaft vom Bahnhof der Centovallina. Deshalb können wir nur raten, das eigene Auto zu benutzen und nebenbei einen Blick auf die kuriosen Eisenskulpturen von Alain Garnier zu werfen. Das Dorf liegt auf einer Anhöhe, 660 Meter ü. M.
Zwischen Wiesen und Feldern erblickt man sofort die grosse Kirche. Sie liegt etwas abseits vom Dorfkern, der trotz dem Nebeneinander von Rustikalbauten und Herrschaftshäusern, die vom Reichtum der Heimkehrer aus dem Ausland zeugen, einen geschlossenen Eindruck hinterlässt. Im 17. und 18. Jahrhundert sind zahlreiche Dorfbewohner in die Toskana ausgewandert, um als Zollboten am Hof der Medici ihr Brot zu verdienen. Einige sind dabei reich geworden.
Die dem Erzengel Michael geweihte Kirche von San Michele erhebt sich auf der Höhenterrasse von Palagnedra, liegt aber etwas abseits vom Ortskern, umgeben von Feldern und Wiesen, die einen hübschen Kontrast zur geschlossenen Häusergruppe des Dorfes bilden. Es war vermutlich die Mutterkirche der Centovalli, vielleicht sogar vor dem 12. Jahrhundert gebaut. 1231 wird sie erstmals urkundlich erwähnt. Der jetzige Bau geht auf die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück, als der dank der Emigration in das Dorf gelangte Wohlstand es erlaubte, das bestehende Gotteshaus neu zu errichten. Der alte Chor wurde als Sakristei in den Neubau eingefügt. Das hat einerseits die Zerstörung einiger seitlich angebrachter Fresken mit sich gebracht, hatte aber zur Folge, dass der wertvolle Zyklus der Malereien des 15. Jahrhunderts erhalten geblieben ist. Wie das Datum an der Fassade angibt, wurde 1731 eine weitere Renovation der Kirche vorgenommen, der im Laufe der Jahrhunderte einige kleinere Eingriffe folgten. Auf beiden Seiten des Eingangs wurden einige Grabsteine aus dem nahen Friedhof angebracht, darüber sieht man ein dreibogiges Fenster und ein Kruzifix. Der Glockenturm, der vielleicht aus dem späten Spätmittelalter stammt, wurde in der Barockzeit erhöht. Im Friedhof vor der Kirche sind zahlreiche Gräber aus dem 19. Jahrhundert zu sehen, mit bemerkenswerten Grabsteinen aus Marmor, die den leidenden Christus, trauernde Engel, Rosen und Efeuranken zeigen. Der Besucher stellt überrascht fest, dass der Nachname Mazzi weitaus am häufigsten vorkommt. Eine Kapelle an der Treppe, die zur Kirche führt, erinnert an den berühmtesten Träger dieses Familiennamens, Petronio Mazzi. Das Kreuz aus grobem Stein, das bei der Kapelle steht, könnte aus der alten Kirche stammen. Das Pfarrhaus steht gleich neben der Kirche. Das Innere der Kirche San Michele wirkt sehr geräumig. Das Schiff trägt eine 1914 angebrachte Kassettendecke. Im Chor sieht man einen neoklassischen Tabernakel aus dem 19. Jahrhundert während die vier Seitenaltäre mit Einlegearbeiten des 18. Jahrhunderts verkleidet sind. In der zweiten linken Seitenkapelle fällt ein schönes Bild der Verkündigung mit der Jahrzahl 1602 auf. Es ist die Kopie eines Werks in der Verkündigungskirche in Florenz. Der wertvollste Kunstschatz wird im alten Chor, rechts vom Hochalter, aufbewahrt. Es sind die Fresken aus dem späten 15. Jahrhundert, die nicht zuletzt dank der Restaurierung durch den Künstler Carlo Mazzi im Jahr 1966, unter dem Patronat der Stiftung Dietler-Kottmann , im schönsten Glanz erstrahlen. Auch wenn die Inschrift des Autors kaum lesbar ist («anton... tre...»), sind sich die Wissenschafter einig, dass die Fresken Antonio da Tradate zugeschrieben werden dürfen. Der Maler aus der Lombardei war an der Schwelle des 15./16. Jahrhunderts häufig im Tessin tätig. In seiner Werkstatt arbeiteten auch der Sohn Giovanni und andere Helfer. So wird - abgesehen von der häufigen Wiederholung der Muster und Bildmotive - die grosse Zahl der Werke erklärlich, die sie in der Region (Ronco sopra Ascona, Ascona, Negrentino, Arosio, Santa Maria in Selva, Friedhof von Locarno, um nur die wichtigsten zu nennen), zurückgelassen haben. Die Fresken in Palagnedra gehören jedoch zu den Meisterwerken dieses Künstlers. Hier hat er sein Farbgefühl, die Vorliebe für archaische Formen, die lebhafte Komposition und den ausgeprägten Realismus am schönsten zur Geltung gebracht. Es ist eine Malerei, die vielleicht ihrer Zeit nachhinkt und sich an überholte Modelle klammert, aber doch zeigt, wie der Künstler seine Ausdrucksformen dem Geist der Renaissance angleichen konnte. Im Mittelpunkt des Chors eine Kreuzigung mit den beiden Schächern, den Soldaten, den frommen Frauen . Im Gewölbe Christus im mandelförmigen Heiligenschein, mit den vier Evangelisten, den Kirchenlehrern, dem Kirchenpatron Michael, der die Seelen abwägt, zwischen Sant'Abbondio und San Maurizio. An der Nordwand der Weg zum Kalvarienberg, gegenüber das Gebet am Ölberg. Unter diesen Szenen zwei Reihen von je sechs Aposteln, die mit dem Bittgebet bei Schwangerschaft und Geburt im Zusammenhang stehen könnten. Der untere Streifen zeigt die Monatsbilder mit Szenen aus dem Bauernleben. (Februar schneidet die Reben) Juni mäht das Getreide, September bereitet die Fässer vor, Oktober erntet die Kastanien , der freundliche April bringt die Blumen, im Mai geht es auf die Falkenjagd.
Nachdem wir die Kirche besichtigt haben, wenden wir uns dem Ortszentrum zu. Auf der linken Seite erblicken wir ein interessantes Wohnhaus, das mit 1908 angebrachten Malereien verziert ist. Vor dem Haus ein Garten, der von einer Mauer umgeben wird, auf der eine Nische mit religiösen Bildern und Inschriften ruht. Gegenüber, auf der linken Seite, ein Gebäude mit ornamentalen Malereien. Auf der rechten Seite die Casa Mazzi, mit dem Familienwappen an der Fassade und schönen Dekorationen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Künstlern aus Florenz angebracht wurden. Das Haus ist von Petronio Mazzi (1681-1753), der für die Medici wichtige Aufträge zu erfüllen hatte, gebaut worden. Die Gasse zwischen den beiden Bauten führt ins Dorfzentrum: Ein Haus auf der linken Seite weist einige kleine Balkone auf; an einem ist das Wappen der Medici angebracht.
An der Strasse, die nach Moneto hinauf führt, weitet sich der Blick: Auf der andern Talseite erkennt man rechts Verdasio, links Borgnone und die höher gelegenen Ortschaften Lionza und Costa. Geht man weiter bis ans Ende der Fahrstrasse, wo der Fussweg beginnt (vom Dorf aus etwa 20 Minuten), erblickt man auch Rasa, Terra Vecchia und Bordei.